Sonntag, 25. Juni 2017
Nie wieder Schulbank - Super! ... oder?
Ich habe es geschafft. Dieser Satz sickert mir so langsam in mein Bewusstsein. Geschafft - nach zehn Jahren Schule, zwei Jahren Ausbildung und nochmal drei Jahren Ausbildung. Seit Freitag halte ich mein Abschlusszeugnis in mein Händen und freue mich, endlich arbeiten zu können. Es ist anders als die letzten Male, als ich ein Abschlusszeugnis bekam. Diesmal ist es endgültig. Fertig. Wahrscheinlich für immer, aber zumindest für sehr lange Zeit. Ich werde keinen einzigen Tag mehr stundenlang auf der Schulbank sitzen müssen und Bilder malen, weil der Unterricht so langweilig ist, dass ich fast vom Stuhl falle. Ich werde nicht mehr nach Hause kommen und mich fragen, was mir der Tag eigentlich gebracht hat. Ich werde nie wieder vormittags gelangweilt aus dem Fenster starren und denken: Was ich jetzt alles tun könnte. Ich werde nicht mehr über Lehrer schimpfen und mich nicht mehr von den ganzen Farben erdrückt fühlen, die hinter mir wie eine näherkommende Wand den Raum füllen. Das ist doch gut! Das ist super. Endlich werde ich arbeiten, was Sinnvolles tun, nicht mehr im Raum hocken; ich bin froh, dass alles vorbei ist! Ich ...
Plötzlich bin ich gar nicht mehr so fröhlich froh, wie ich es vor fünf Minuten noch war. Ob das am Wetter liegt? Es regnet und ist trüb. Ich freue mich aufs Arbeiten, sehr sogar, deshalb habe ich ja schon vor einer Woche eher damit angefangen. Es ist schön, ich denke, ich komme gut klar dort. Und Probleme gibt es überall, das gehört zum Leben. Auf jeden Fall bin ich dort noch kein einziges Mal von Farben erdrückt worden.
Aber das kann schließlich noch kommen. Das kann überall passieren, auch auf offener Straße. Und war es in meinem Klassenraum nicht doch irgendwie ganz okay? Ich wusste immer, wer da ist. Ich wusste in jeder Situation, mit welchen Farben ich gleich rechnen musste - ich kannte die Reaktionen der Leute ja. Und wenn meine Freundin da war, war das ja eh alles nicht so schlimm. Ihr Smaragdgrün, dass sie und ich und manch anderer ja nicht grundlos "Schild" nannten, machte alles erträglicher. Und nicht nur ihre Farbe sorgte dafür, dass ich mich immer ganz schnell besser fühlte - vor allem auch sie selbst. Ihre Art, mir positive Gedanken einzureden, so dass ich glaubte, sie wären Realität. Ihre Erscheinung, Wirkung, ihr Auftreten: ruhig und gelassen, fest und beweglich, spontan und vernünftig, alles zugleich. Ihre Art, die Dinge leicht zu nehmen, die man gar nicht leicht nehmen konnte.
Sie wird mir fehlen. Mehr als jeder andere in meiner Klasse, mehr als alles aus dem Alltag, den ich zur Schulzeit immer hatte. Mehr als die Tatsache, auch mal unaufmerksam sein zu können, nicht immer aktiv werden zu müssen. Natürlich bleibt unser Kontakt. Sie ist der erste Mensch, bei dem ich daran keine Sekunde zweifle. Wir haben einen gemeinsamen Freundeskreis. Wir haben eine Seite, auf der wir fast jeden Abend ein bisschen schreiben. Wir haben selbst während monatelangen Praktika, wo wir uns nicht sahen, oft und stundenlang telefoniert und geschrieben. Mit keinem anderen, aber mit ihr. Auch, wenn eigentlich gar nichts war, sondern einfach so. Nein, aus den Augen verlieren werden wir uns nicht. Dazu sind wir zu anders eingestellt, denn wir müssen nicht jede Woche schreiben, um uns nicht aus den Augen zu verlieren. Das ist auch nicht der Grund für meine leicht melancholischen Gedanken. Es ist eher ... sie war fast immer da. Wenn sie nicht krank war, war sie in der Schule, auf dem Platz neben mir. Wenn etwas war, war es sofort präsent. Wie sehr werden mir unsere täglichen Spaziergänge in den Pausen fehlen, auf denen wir tiefgreifende Gespräche führten. Wie sehr wird es mir fehlen, dass neben mir jemand sitzt, dem ich freiheraus sagen kann, was mir gerade abgedrehtes durch den Kopf geht, und der mit einem Grinsen antwortet: "Kenn ich." Wie seltsam wird es mir vorkommen, in unangenehmen Situationen keinen Fixpunkt zu haben, auf den ich mich konzentrieren kann, um alles auszuhalten.
Die Schulbank war, im Großen und Ganzen, doch nicht ganz so schlecht. Das sagen ja viele, und man will es nicht glauben. Doch wenn einem plötzlich bewusst wird, dass es endgültig vorbei ist, sieht man es auf einmal mit anderen Augen. Es gibt so viele Gedanken, die sich gegenseitig widersprechen. Sie heben ihr Gegenteil auf, und trotzdem bestehen sie beide gleichzeitig weiter:

War da nicht irgendwo eine Vertrautheit in dem, was man um sich hatte?
Die Vertrautheit wird sich auch da entwickeln, wo man jetzt ist.

War es nicht doch schön einfach, nur sitzen und hören zu müssen, ohne dass es schlimm ist?
Wird es nicht noch viel schöner sein, täglich etwas Sinnvolles zu tun?

Wird es ab jetzt nicht doch anders sein, wenn wir uns nicht mehr oft sehen?
War es nicht in den Praktika genauso, und es war trotzdem nichts anders?

So zieht es sich fort, und die Gedanken kreisen. Mir kommt das dazu passende Lied von Johannes Oerding in den Sinn. Eigentlich gibt es keinen Grund für trübe Gedanken, denn alles ist gut und es fühlt sich alles gut an. Doch mich durchzieht ein Gefühl, als würde ich nach etwas greifen wollen, dass mir durch die Finger gleitet, immer vor mir her. All das, was mich in den Zeiten voller Schwierigkeiten aufgerichtet hat, ist plötzlich bedeutsamer als das, was aktuell besteht. Und es verbindet sich zu einem hauchdünnen Wind, der sich wie eine Hülle um meinen Körper, um meine Existenz legt, als wäre er es, der mich durch alles trägt, was ich jetzt erlebe.

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Dienstag, 2. Mai 2017
Überreizt
Viele Menschen um mich herum bedeuten auch viele Farben um mich herum. Wenn es angenehme Farben sind, also die Menschen sich gut fühlen oder zumindest nicht schlecht, dann geht es. Aber wenn schlechte Stimmung in der Luft liegt, und das bei einer großen Menge an Leuten, dann kann es passieren, dass ich es nach einer Weile nicht mehr aushalte. Dann ist es, als hätte ich mich körperlich und geistig ziemlich angestrengt - ich fühle mich schwach und habe Kopfschmerzen, oft wird mir auch schlecht, und ich muss aus der Situation heraus.
Letzte Woche Donnerstag war wieder so ein Tag. Wir hatten nur sieben statt normalen acht Stunden, und die siebte Stunde war spontan eine Klassenleiterstunde geworden - hieß, wir diskutierten über Organisatorisches. Und die Diskussionen heizten sich auf. Eigentlich ging es um Nichtigkeiten, doch wie es oft so ist, hatte jeder eine andere Meinung und es wurde gemeckert, ohne eine Einigung zu finden. An diesem Tag war ich ohnehin schon angeschlagen, und so erschöpften mich die Farben der Klasse ziemlich. Ich war mehr als froh, als die Stunde vorbei war. Mein Freund, der mich nach der Schule abholen wollte, wusste nicht, dass ich eher Schluss hatte. Ich hätte es ihm schreiben können. Doch ich wollte es nicht. Ich kannte mich und wusste, dass ich diese übrige Dreiviertelstunde für mich selbst brauchen würde. Also entschied ich mich, im Klassenraum zu warten.

Als alle gegangen waren, machte ich Instrumentalmusik auf dem Handy an und malte weiter an dem Bild, an dem ich schon die ganze Stunde über gemalt hatte. Die Sonne schien auf mein Blatt. Und augenblicklich legte sich ein Gefühl der Erleichterung und Freiheit über mich, auch wenn es in mir noch immer brodelte und schrie wegen der Masse an unangenehmen Farben von eben gerade. Ich sah mich im Raum um und genoss es, wie leer er war, mit den ganzen hochgestellten Stühlen. Ein Gefühl, das ich nicht beschreiben konnte, aber ich hätte noch ewig hier sitzen können und die stille Leere des Raums genießen. Es versetzte mich in Träumereien und Gedankenflüge, während ich dieses dumpfe unangenehme Gefühl im Bauch nicht los wurde. Dann dachte ich an meinen Freund, der ald unten warten würde, denn das eigentliche Unterrichtsende war fast da. Ich dachte daran, was ich jetzt alles vorhaben würde, und ich wollte nicht. Ich wollte nichts und niemanden. Ich wollte nirgends anders sein als hier, nicht mal zuhause, mit keinem und mit nichts als dem Blatt und den Stiften, und einfach immer weiter malen, bis ich aus eigenem Wunsch aufstehen und gehen würde, ohne dass mich etwas dazu zwang.

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Montag, 24. April 2017
Jetzt tu nicht so, ich hab´s doch längst gesehen...
Noch befinde ich mich auf den letzten Metern meiner Erzieherausbildung, und ich kann das Licht am Ende des Tunnels schon sehen - endlich arbeiten, bald ist es soweit! Doch noch sitze ich Tag für Tag in einem Raum mit meiner Klasse. Meine Klasse - ein bunt gemischter Haufen Leute mit ständigem Stimmungs-Auf-und-Ab. Und damit meine ich nicht nur die Farben, sondern vor allem die Tatsache, dass sich das Klassenklima oft ändert. Tatsächlich gibt es nur eine Handvoll Leute, die darin authentisch sind - und das sollen alles Erzieher werden ... naja, es ist nicht mein Part, sowas zu beurteilen. Was ich allerdings sehr wohl beurteilen kann, ist, dass sehr viele sich selbst und anderen viel vorspielen.
Eine Mitschülerin hebe ich hierbei besonders hervor. Sie ist älter als ich, aber nicht viel, sie ist um die 30 und bereits Mutter. In meinem zweiten Ausbildungsjahr wechselte sie von einer anderen Schule zu uns, und nach einem halben Jahr waren sie und ich plötzlich Banknachbarn. Sie zählt zu den Aufmerksamen, das heißt, sie hatte bereits von meiner Synästhesie mitbekommen, obwohl nur ein ganz kleiner Teil der Klasse davon wusste. Und sie war fasziniert. Andauernd löcherte sie mich mit Fragen. Welche Farben standen für welches Gefühl? Wie viele Farben hat ein Mensch meistens so? Und so weiter.
Das hielt ungefähr zwei Wochen an. Ich sah, dass ihr Interesse ehrlich war, und gab ihr meistens Antwort. In der dritten Woche änderte sich ihre Farbwelt dann immer öfter: zwischendurch konnte ich bei ihr Farben entdecken, die in die ablehnend-distanzierte Richtung gingen. Sie tauchten wie kurze Schnappschüsse im Wechsel mit ihren üblichen Farben auf.

Nun bin ich kein Mensch, den es unglaulich stört, wenn jemand ihn nicht sympatisch findet (nicht mehr, aber das ist ein anderes Thema). Doch es irritierte mich, denn die Art und Weise war ungewöhnlich, dieser unregelmäßig aprupte Wechsel verwirrte mich. Um es besser einordnen zu können, malte und schrieb ich es auf. Noch eine Woche verging, dann schrieb sie mich eines abends an, sie wolle, dass ich den Sitzplatz wechsle, da es mit uns nicht passe.
Das Ganze ist über ein Jahr her. Wir haben nicht viel miteinander zu tun, und wenn doch, sprechen wir normal miteinander. Manchmal kommen mir gegenüber komische Spitzen, die andere nicht zu hören scheinen. Doch auch wenn sie nicht kommen, sehe ich, dass ihr freundlicher Umgang mit mir nichts als Schein ist, denn dieser Farbwechsel geschieht noch immer. Nämlich, sobald sie mit mir spricht. Ich weiß, dass sie nichts gegen mich hat. Ich weiß, dass ihr bewusst ist, dass ich diese Veränderung sehe. Es ist eine Art Mischung aus Unsympathie, Falschheit, Verstellung und seltsamer Lebenseinstellung, die diese Frau in sich trägt - und ich muss zugeben, besonders gern halte ich mich in ihrer Gegenwart auch nicht auf.

So wie bei ihr, passiert es mir oft. Menschen sprechen mit mir oder mit mir oder anderen über jemanden, oder sie gehen miteinander irgendwie um; und ich sitze da und denke: Du meinst etwas anderes. Du tust nur so. Dir geht das-und-das durch den Kopf. Und immer, wenn ich in einer Situation bin, frage ich mich, warum sie nicht einfach zugeben, was sie doch eigentlich am liebsten sagen wollen.

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