Dienstag, 11. April 2017
Von dem Phänomen, dass die Gefühle anderer oft meine überdecken
Es klingt oft so, als würde ich durch meine Synästhesie immer den totalen Durchblick haben. Viele denken, ich könne alles filtern und alles durchschauen. Tatsächlich werde ich aber sehr oft geblendet - nicht im Wahrnehmen der Farben, sondern in deren wahrheitsgemäßer Einschätzung.
Es ist ein Problem, auf das ich schon häufig gestoßen bin. Besonders klar wurde es mir aber im 2. Blockpraktikum meiner Erzieherausbildung, welches ich vor über einem Jahr in einem Kinder- und Jugendschutzhaus absolvierte. Manchen ist eine solche Einrichtung vermutlich besser als "Inobhutnahmestelle" bekannt. Dorthin kommen Kinder und Jugendlichen, die durch akute Vorfälle schnell aus ihrem Umfeld mussten, und sie bleiben Tage, Wochen oder Monate dort, bis klar ist, wie es weitergeht.
Im Umgang mit den Jugendlichen fiel dieses "Problem" mit meiner Wahrnehmung besonders stark auf. In vorangegangenen Beiträgen habe ich bereits geschildert, dass ich nicht nur die Gefühle der anderen als Farben wahrnehme, sondern sie auch mitempfinde, weshalb beispielsweise schlimme Gefühle dafür sorgen, dass es mir schlecht geht. Und genau an dieser Stelle entsteht der Fehler. Die Gefühle der anderen, die auf mich einströmen und die ich empfinde, als wären es meine eigenen, werden - wenn ich nicht aufpasse - nur allzu schnell tatsächlich zu meinen eigenen. Ich vertrete die Empfindungen und Stellungen der anderen Person, weil es mir nicht möglich ist, mich davon abzugrenzen. Das ist besonders bei intensiven Gefühlen so. Wenn ein Jugendlicher in der Einrichtung verzweifelt war, weil er Kontaktverbot zu einem für ihn wichtigen Menschen hatte, empfand ich seine Verzweifung mit. Und wenn ich tagtäglich damit konfrontiert war, neigte ich dazu, mich mit ihm zu identivizieren. Ich verteidigte also im Team die Interessen des Jugendlichen, sprach davon, dass diese Person offensichtlich dem Jugendlichen guttat und dass es nur menschlich sei, gegen das Kontaktverbot vorzugehen. Von diesen Dingen war ich überzeugt, wenn ich sie aussprach. Was mir jedoch erst einige Tage später bewusst wurde, war die Tatsache, dass es nicht meine Gefühle und Überzeugungen gewesen waren, die mich zu diesen Aussagen gebracht hatten. Ich hatte so etwas gesagt, weil mich die Gefühle des Jugendlichen beeinflusst hatten.
Dies kam mehr als einmal vor und so entschied ich für mich, den Jugendbereich vorerst abzuschreiben und mich den Kindergartenkindern zuzuwenden. Kindergefühle sind ganz anders - doch dazu ein andermal mehr. Der entscheidende Punkt ist, dass ich in Beobachtungen und Einschätzungen noch weniger objektiv bin - und sein kann - als andere. Dies ist manchmal gut, und manchmal schlecht. Es kann mir helfen, gerade wenn eine Situation erfordert, sich in einen Menschen hineinzuversetzen, der sehr schwierig zu verstehen ist. Dann bin ich im Vorteil. Doch es hat seine Tücken. So eben auch diese, und das ist eine große. Und ein Grund, weshalb ich sehr oft mit meinen Wahrnehmungen hinter dem Berg halte. Ich neige zu Effekthandlungen, und ganz besonders auf der emotionalen Schiene. Vielleicht bin ich deshalb schon so oft angeeckt.

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Sonntag, 6. März 2016
"Gefühlsfarben"
Jede Synästhesie ist einzigartig. Keine Wahrnehmung ist wie die andere. Es gibt unzählige Formen und unzählig viele Kombinationen ...

Seit ich mich erinnern kann, sehe ich die Farben. Sie sind immer da, jeden Tag, sobald ein Mensch in meiner Nähe ist. Ich sehe, was er fühlt. Und damit meine ich nicht Mimik und Gestik, das, was man lernen kann zu interpretieren. Ich sehe es in den Menschen. Ich sehe es in Form von Farben. Und nicht nur das - ich empfinde die Gefühle mit.

Bis ich zwölf war, dachte ich, dass jeder sie sehen kann. Dann merkte ich, dass ich die Einzige bin. Ich begann, mich genauer mit dem zu befassen, was ich sehe. Ich schrieb meine Wahrnehmungen auf, ohne zu wissen, warum nur ich das alles sehen kann. Einige Jahre später half mir der Zufall auf die Sprünge: in einer Anime-Serie sah ich eine Figur, welche auch diese Farben sah. Wie bei mir, hatte jedes Gefühl seine ganz bestimmte Farbe, und wie bei mir taten negative Gefühle körperlich weh. Und in der Serie wurde es deutlich gesagt: Synästhesie. War es das, was ich hatte?
Nach vielen Recherchen und weiteren Jahren, in denen ich fleißig Informationen sammelte, wusste ich endlich bescheid. Ich wusste, dass ich Synästhesie besaß, und entdeckte noch einige andere Parallelen dazu (siehe z.B. das mit der traurigen 9). Nach all der Zeit hatte meine andere Wahrnehmung endlich einen Namen. Wenn man versucht, meine Synästhesie in die üblichen Kategorien einzusortieren, habe ich wohl eine Mischung aus "Gefühlssynästhesie", bei der die Wahrnehmungen zusätzlich mit einer Empfindung verknüpft sind; und "Personen-Aura-Synästhesie". Nur sehe ich keine Hülle um eine Person herum. Ich sehe die inneren Farben.

Also, nochmal langsam: ich sehe die Gefühle der Menschen in Farben. Das hat nichts mit Magie oder Zauberei zu tun. Wie das funktioniert? Das ist sehr schwierig zu erklären.
Sobald sich ein Mensch in meiner Nähe aufhält, nehme ich automatisch - neben dem, was äußerlich ohnehin zu sehen ist - Farben an ihm wahr. Das sind immer mehrere Farben, denn man empfindet ja nie nur ein einziges Gefühl. Diese Farben sind aber weder um den Menschen herum noch "an ihm dran". Mein Kopf erstellt vor meinem inneren Auge eine Kopie der Person, die vor mir steht. Diese Kopie hat denselben Umriss wie das, was ich tatsächlich sehe, ist jedoch ausgefüllt von den Farben, die die Person empfindet. Ich versuche einmal, das bildlich darzustellen:

Auf diese Art nehme ich grundlegend erst einmal jeden Menschen wahr. Aber es wäre ja keine Synästhesie, wenn das schon alles wäre.

Dabei sind die Position und die Form der verschiedenen "Flecken" nicht von Bedeutung - die Größe allerdings schon. Je größer eine Farbe, desto stärker ist das zugehörige Gefühl. Und jede Farbe gehört zu einem Gefühl - Besorgnis beispielsweise ist lindgrün und Freude violett, Arroganz grell-gelb und Hass tief dunkelbraun. Und dadurch, dass ich diese Gefühle der anderen Menschen nicht nur in Farben sehe, sondern auch mitempfinde, habe ich irgendwann gelernt, diese Zuordnung zu treffen. Am Anfang war gelb einfach nur gelb und es fühlte sich stechend an. Mit den Jahren und durch genaue Beobachtung konnte ich dieses wahrgenommene Gefühl irgendwann genau definieren. Es ist ein Lernprozess - ein verdammt bunter, emotionaler Lernprozess.

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Freitag, 26. Februar 2016
Eine >5< ist keine >fünf< - Das Problem von Synästhesie und Mathe
Aufmerksamen Lesern ist sicher nicht entgangen, dass ich die Zahlen in den vorangegangenen Artikeln ausschließlich als Ziffern geschrieben habe. Das hat einen ganz einfachen Grund: in Worten sind sie für mich etwas anderes.
Hier kommt jetzt das erwähnte Farbensehen ins Spiel. Fast jeder Synästhesist hat das. Recherchiert man Synästhesie, ist das farbige Sehen von Zahlen und Buchstaben meist das erste, was man in diesem Zusammenhang findet. Doch anders als bei den meisten, existieren diese Farben bei mir auch nur bei gedruckten Zahlen und Buchstaben. Der Text, den ich hier gerade schreibe, würde auf Papier einfach nur die Farbe des Füllers haben. Hier, am Laptop eingetippt, ist er kunterbunt. Jeder Buchstabe hat dabei seine feste Farbe, völlig egal, in welchem Wort er gerade steht:

Hier wird es deutlich: Obwohl das Wort >blau< selbst eine Farbe beschreibt, kommt genau diese Farbe nicht einmal darin vor. Und dieses Phänomen ist, im abgewandelten Sinne, mein persönlicher Grund, warum ich noch nie gut in Mathe war - Mathe und meine Logik bezüglich Zahlen passen einfach nicht zusammen.
Natürlich hat auch jede Zahl ihre eigene Farbe:

Diese Farben, im Gegensatz zu denender Buchstaben, stören mich. Das mag zum Einen daran liegen, dass Zahlen bei mir zusätzlich Empfindungen auslösen (was Buchstaben nicht tun); zum Anderen aber daran, dass ich mit den Zahlen rechnen muss.

Mathe war noch nie meine Stärke. Ich verstehe es einfach nicht. Die Erklärung dafür ist, aus meiner Sicht, ziemlich einfach, aber für Nicht-Synästhetiker ziemlich befremdlich.
Nehmen wir die einfache Rechnung
4 + 3 = 7
und gehen damit in meine Grundschulrechenzeit zurück. In meiner Wahrnehmung sähe die Rechung wie folgt aus, wobei schwarz hier für "keine Farbe" steht:

Das Ergebnis war für mich unlogisch, denn nimmt man den Farbkasten und mischt hellrot und dunkelgrün, kommt dabei kein reines Lila heraus. Wie also konnte es hier so sein? Und noch schwieriger:
9 + 9 = 18
also

Wie kann zweimal dieselbe Farbe zu zwei verschiedenen Farben gleichzeitig werden? Ich habe es nie verstanden und ich werde es nie verstehen; und es ist vergebliche Mühe, zu versuchen, sich die Farbverläufe einzuprägen, denn bei so vielen Rechnungen auf der Welt würde mir der Kopf platzen.

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Wie Synästhetiker Zahlen wahrnehmen
Aus der Geschichte mit meiner Mathelehrerin lernte ich zum ersten Mal, dass ich irgendwie anders wahrzunehmen schien als andere. Das heißt, damals dachte ich noch, die anderen nehmen anders wahr als ich! Die Sache mit der 9 beschäftigte mich noch jahrelang - Warum ist die 9 traurig?
Seit ich mir im Klaren darüber bin, was in meinem Kopf und meiner Wahrnehmung vor sich geht, weiß ich die Antwort darauf: Die 9 ist traurig, weil sie eine 9 ist; genau so, wie die 4 gehässig lacht, weil sie eine 4 ist. Das zu hinerfragen, ist genauso überflüssig wie die Frage, warum ein Habicht ein Habicht ist und kein Storch oder Wolf oder Zebra. Er ist eben ein Habicht, mit allem, was zu einem Habicht gehört - typisch gefärbte Federn, Klauen, gebogener Schnabel und große dunkle Augen. Das sind seine Merkmale, seine Eigenschaften, und wenn er diese nicht hätte, dann wäre er kein Habicht. Und das Merkmal der 9 ist eben, dass sie traurig ist. Zumindest ist das bei mir so. Und bei vielen Synästhetikern ist es ähnlich.

Die wohl bekannteste Form der Synästhesie sind farbige Zahlen und Buchstaben. Fast jeder, der Synästhesie besitzt, sieht diese Farben, ganz unabhängig davon, welche synästhetischen Wahrnehmungen er sonst noch besitzt. So wie auf dem Bild, so sehen unsere Zahlen aus. Was dabei ganz wichtig ist - Synästhesie ist individuell. Zwar hat jede Zahl ihre zugeordnete Farbe, doch diese Farbe ist bei jedem eine andere. Der eine sieht eine 1 rot, der nächste grün, wieder ein anderer orangegelb. Auch bei mir hat jede Zahl ihre eigene Farbe - dazu komme ich im nächsten Artikel noch einmal genauer. Ich habe aber noch eine weitere Wahrnehmung von Zahlen. Meine Form der Synästhesie ist, wie bereits erwähnt, die Gefühlssynästhesie. Ich verknüpfe also Dinge und Gefühle miteinander - um diesen Begriff jetzt einmal zu begrenzen.

Daher kommt die traurige 9, die ich als Kind so oft in meinem Mathebuch gesehen habe. Und so hat jede Zahl bei mir ihr ganz eigenes Merkmal.
- 1 ist eingebildet und hochnäsig
- 2 ist elegant und hübsch, jemand Edles
- 3 ist wild und ungebändigt
- 4 ist gehässig und hinterhältig, man sollte
ihr nicht vertrauen
- 5 weiß nicht, was sie will, ob rund oder
eckig, gut oder schlecht
- 6 hat eine Brille auf der Nase und ist eine
Besserwisserin
- 7 ist ganz der Akurate, der Ordnungstyp
- 8 ist pausenlos am Zweifeln und eiert in
Gedanken hin und her
- 9 ist traurig und einsam
- 0 ist schreckling ängstlich und schreckhaft
Bei mehrstelligen Zahlen, wie der 26, vermischen sich die Eigenschaften der einzelnen Zahlen. So ist die genannte 26 eine elegante Besserwisserin und eine 1379 eine hochnäsige Person, die sich nichts vorschreiben lässt, pingelig ist und heimlich vor sich hin weint.
Zudem gibt es weibliche Zahlen (1,2,3,6,9), männliche Zahlen (4,5,7,8) und eine sächliche Zahl (0). Anders als die Merkmale, welche ich ja nur bei gedruckten Zahlen empfinde (siehe "Frau Wagner, können Sie mir sagen, warum die 9 weint?"), gilt diese Geschlechtereinteilung in meinem Kopf auch bei handgeschriebenen Zahlen. Schließlich bleibt eine weibliche Person auch dann noch weiblich, wenn sie sich etwas anderes anzieht ;-)

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