Dienstag, 5. Juli 2022
Farben im Bauch - warum so lange Pause war
Es gibt etwas Neues in meinem Leben. Eine Veränderung. Eine, die auch auf meine Synästhesie Auswirkungen hat - und dabei ist so vieles so komplex, dass ich mich bis jetzt davor gescheut habe, Beiträge darüber zu verfassen. Es ist eine wunderbare Veränderung: ich bin Mutter geworden.

"Schnecki", kerngesund und nun schon ein Jahr alt, hat alles auf den Kopf gestellt. Klar, damit bin ich nicht alleine - so geht es allen Eltern auf der Welt. Ein Kind, vor allem das erste, verändert alles. Das war mir vorher klar, und so sollte es ja auch sein. Schon immer wollte ich eine Familie!
Was mir jedoch nicht klar war: Schwangerschaft, Geburt und Mutter sein hat auch einen Einfluss auf die Synästhesie. Und allmählich bekomme ich Lust, darüber zu schreiben. Das habe ich natürlich schon getan - für mich selbst, in viele Tagebücher, wie ich es seit Jahren mit allem tue. Doch der Wunsch, Menschen zu erreichen, die Synästhesie haben, ist ebenfalls da. Die auch erlebt haben, wie es ist, wenn sich das ganze Leben ändert und man Dinge wahrnimmt, die es vorher einfach nicht gab. Und was es bei mir auf einmal gab, waren Farben im Bauch.

Bevor ich wusste, dass Schnecki unterwegs ist, habe ich es gespürt. Gespürt, aber mir selbst nicht geglaubt. Wir wollten ein Kind, wollten es schon über ein Jahr, und dann plötzlich wusste ich, dass da etwas anders in mir ist. Ich versuchte, mir einzureden, dass es das ist, was ich hoffe. Sagte mir gleichzeitig, dass ich nicht zu sehr hoffen darf. Dann die Bestätigung des Arztes, und nur eine Woche später stand plötzlich alles auf der Kippe - eine Blutung. Kalte Angst davor, dass der Traum verplatzt. Lähmende Angst, dass ich das nicht verkraften würde.
Dieser Moment, in einem Warteraum zu sitzen und irgend so ein kleines Etwas, das da irgendwo sein muss, mit Mantra-artig wiederholtem "Du musst bleiben, du musst bleiben!" zu beschwören, gehört zweifellos zu den unbeschreiblichsten Ereignissen, die man erleben kann. Die Verbindung, die ich dabei zu meinem noch nicht einmal dreimonatigem Bauchkrümel spürte, ebenfalls.
Wir durften weiterträumen. Alles war gut. Die Wochen vergingen, eine Schwangerschaft, die keine weiteren Probleme mehr machte. Eines Tages machte es >Blubb<. Und als es immer öfter und stärker >Blubb< machte, sah ich zum ersten Mal in meinem Leben Farben von jemandem, den ich selbst nicht sehen konnte. Schneckis Farben.

Ja, Babys in Bäuchen haben Farben. Natürlich nicht von Anfang an, sondern ab da, wo sie fühlen, und groß genug sind, um genügend Gefühle auszustrahlen. Das wusste ich, weil ich schon die ein oder andere Schwangere in meinem Leben gesehen hatte. Doch diese Farben waren in meinem Bauch! Von meinem Kind. Das Erste, was ich von meinem Kind kannte, waren die Gefühle - ohne es selbst zu kennen. Ein unbeschreibliches, wunderbares Gefühl!

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Freitag, 8. November 2019
"Den Film muss ich mir zuhause nochmal ansehen." - welche Gründe mich vom Kino fernhalten
Es gibt Situationen, in denen es nicht unbedingt von Vorteil ist, Synästhesie zu haben. Welche das sind, ist wohl bei jedem unterschiedlich, schon alleine, weil ja jeder andere Synästhesien erlebt.
Ein Ort, der für mich sehr grenzwertig und nur schwer auszuhalten ist, ist das Kino. Die meisten jungen Leute lieben es, neue Filme gleich im Kino anzuschauen, frisch verliebt ins Kino zu gehen oder einfach ab und zu für das Kino-Gefühl. An diesem Punkt steige ich aus. Für mich lautet da ganz klar die Devise: lieber ohne mich. Wenn ich einen Film nicht nur verstehen, sondern auch genießen will, dann schaue ich ihn mir ganz in Ruhe zuhause an.
Schon als Kind war ich absolut kein Kinogänger, worüber sich besonders Freunde wunderten, die gern dahin einluden oder für die es ein Erlebnis war, ins Kino zu gehen. Ich wusste meistens nicht einmal, welche Filme da gerade liefen, denn das war für mich eh nicht wichtig - was ich sehen wollte, guckte ich per Video oder DVD (und heutzutage vielleicht auch mal im Internet). Ich mochte Kinos einfach nicht, nach Möglichkeit hielt ich mich von ihnen fern.
Das ist bis heute so geblieben. Natürlich gab es Situationen, wo ich nichts dagegen machen konnte. Eine Geburtstagsfeier konnte ich im Notfall absagen, doch wenn die Schule entschied, dass unsere Klasse ins Kino geht, musste ich mit. Vor allem, wenn ich nicht wollte, dass die Lehrer stundenlang mit mir diskutierten, was ich denn gegen das Kino habe und dass ich mich mit meiner "blühenden Fantasie doch mal zurückhalten" sollte. Schließlich sei ich nicht anders als der Rest der Klasse, wurde mir gesagt.
Außerhalb der Schulklassen schaffte ich es jedoch, fast immer um irgendwelche Kinobesuche herumzukommen, ohne dass jemand blöde Fragen stellte. Es gibt nur ganz wenige Menschen, die mich bisher freiwillig in ein Kino bekommen haben. Darunter natürlich die Freundin mit der abschirmenden Farbe.
Apropros abschirmende Farbe - genau das ist der Punkt. Das Kino vereint zufällig alle für mich unangenehmen Faktoren, die mich ablenken und meistens überreizen ... Das fängt erstmal damit an, dass im Normalfall der Kinosaal voller Menschen ist - und voll von deren Gefühlen. Das alleine wäre an guten Tagen kein großes Problem, denn es gibt unzählige Situationen, wo ich von vielen Leuten umgeben bin. Weihnachtsmärkte, Klassen, Warteräume, Busse, Weiterbildungen, Restaurants und so weiter. Da sind immer viele Menschen und viele Farben, und daran bin ich ja gewöhnt.
Aber im Kino ist es dunkel. Das ist, als ob man auf ein schwarzes Papier mit bunten Pinseln Farbtupfer spritzt - die Farben treten klar und deutlich, geradezu übermächtig hervor, so als ob sie nicht nur vor meinem inneren Auge wären, sondern als würde der ganze Raum aus ihnen bestehen. Es sind ja, bis auf die Kinoleinwand, sonst keine optischen Reize da, in denen die Farben wie sonst untergehen können. Sie schieben sich wie ein Netz vor mein Blickfeld, wie ein Schleier, durch den ich erstmal durchgucken muss, um den Film zu sehen - und mich auf ihn konzentrieren zu können! Durch diese so überdeutlichen Gefühle der anderen Kinobesucher bin ich abgelenkt, ohne dass ich es will, und bräuchte meine ganze Konzentration, um zumindest zeitweise alles außer dem Film auszublenden.
Hinzu kommt die riesige Kinoleinwand, die so hell ist, dass ich das Gefühl habe, sie knallt gleich auf mich drauf. Keine Ahnung, warum ich das so empfinde, aber ich fühle mich von ihr regelrecht erschlagen, presse mich automatisch in die Rückenlehne, als könnte ich dadurch den Abstand vergrößern. Mir ist das Geschehen zu dicht. Die Luft da drin ist auch meistens warm und stickig. Wenn dann auch noch extrem laute Geräusche dazukommen, was bei fast jedem Kinofilm der Fall ist, reicht es endgültig. Meistens kann und muss ich dann nur noch eins: raus.



Hier habe ich einmal versucht zu verbildlichen, wie ein Kinobesuch für mich aussieht. Was natürlich nicht dazustellen geht, ist das helle Licht und die Lautstärke. Als Kinobild habe ich hier beispielhaft eine Szene aus dem Film "Die Kriegerin" eingesetzt, denn das war der Film, bei dem es so krass war, wie ich es bei fast keinem Film bisher erlebt habe - der Inhalt der Handlung rief bei den Zuschauern so starke Gefühle wie Betroffenheit, Entsetzen, Angst oder Abscheu hervor.

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Dienstag, 24. September 2019
"Danke, dass du meine Wahrnehmung nicht für dich benutzt." - man braucht Menschen, für die das kein Thema ist

Ja, solche Menschen sind ungeheuer wichtig - besonders, wenn man wie ich tagtäglich von vielen Menschen umgeben ist. Früher habe ich sehr vielen von meiner Synästhesie, meiner Gefühlswahrnehmung, erzählt. Inzwischen bin ich damit sehr viel zurückhaltender geworden. Das heißt ja aber nicht, dass niemand mehr davon weiß. Es gibt ein paar Vertrauenspersonen, die bescheid wissen, und natürlich auch Menschen, die es erfahren haben, weil es nötig war. Dazu zählen zum Beispiel zwei Kollegen. Wenn man sich mit ihnen gut versteht, kommt irgendwann einfach irgendwann der Punkt, wo eine Erklärung nötig ist, warum man zusammenzuckt oder unvermittelt schweigsam wird ... denn natürlich wundern sie sich und stellen Fragen. Und da ich inzwischen merkte, dass ich ihnen zumindest grundlegend vertrauen kann, habe ich schließlich beide eingeweiht.
Das beinhaltet aber auch, dass ich ein gewisses Interesse geweckt habe. Während Kollegin A. das locker-flapsig sieht und eigentlich weder anspricht noch beachtet, versucht Kollegin B., besonders "verständnisvoll" zu sein. Wobei sich meiner Kenntnis entzieht, wofür sie da Verständnis aufbringen will. Erstens kann sie das ja gar nicht verstehen, zweitens ist betontes Verständnis echt anstrengend. Sie fragt dann, was ich wahrnehme und wie das aussieht... und merkt nicht, dass solche Fragen anstrengend sind.
Wenn man durch mehrere Menschen gezwungen wird, immer wieder seine Wahrnehmungen auszusprechen, tut es unbeschreiblich gut, mit jemandem befreundet zu sein, wo es völlig anders läuft. Wo nicht einmal die Frage kommt: "Was fühl ich denn gerade?", und auch nicht: "Siehst du bei XY irgendwelche Farben?" Wo meine Wahrnehmung nicht mal ein Thema ist, einfach nicht im Vordergrund steht. Für sie ist es einfach ... da. Ich hab halt diese Wahrnehmung, und sie weiß, dass ich immer und überall von ihr und jedem die Gefühle in Farben wahrnehme, und fertig. Da ist das eben so.
Selten kommt es mal vor, dass sie mich doch mal fragt, was ich in besonders seltsamen oder wichtigen Situationen wahrgenommen habe. Und dann habe ich, eben durch die Seltenheit, aber auch durch ihre Art, wie sie fragt, nicht das Gefühl von betontem Verständnis. Es ist eher schön, zu spüren, dass sie es ernst nimmt und ihr wichtig ist, zu zeigen, dass meine Wahrnehmung für sie einfach ein Teil von mir ist. Etwas, das ganz selbstverständlich da ist, etwas, das wertgeschätzt wird. Und das ist ein unglaubliches Gefühl.

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