Sonntag, 6. März 2016
"Gefühlsfarben"
Jede Synästhesie ist einzigartig. Keine Wahrnehmung ist wie die andere. Es gibt unzählige Formen und unzählig viele Kombinationen ...

Seit ich mich erinnern kann, sehe ich die Farben. Sie sind immer da, jeden Tag, sobald ein Mensch in meiner Nähe ist. Ich sehe, was er fühlt. Und damit meine ich nicht Mimik und Gestik, das, was man lernen kann zu interpretieren. Ich sehe es in den Menschen. Ich sehe es in Form von Farben. Und nicht nur das - ich empfinde die Gefühle mit.

Bis ich zwölf war, dachte ich, dass jeder sie sehen kann. Dann merkte ich, dass ich die Einzige bin. Ich begann, mich genauer mit dem zu befassen, was ich sehe. Ich schrieb meine Wahrnehmungen auf, ohne zu wissen, warum nur ich das alles sehen kann. Einige Jahre später half mir der Zufall auf die Sprünge: in einer Anime-Serie sah ich eine Figur, welche auch diese Farben sah. Wie bei mir, hatte jedes Gefühl seine ganz bestimmte Farbe, und wie bei mir taten negative Gefühle körperlich weh. Und in der Serie wurde es deutlich gesagt: Synästhesie. War es das, was ich hatte?
Nach vielen Recherchen und weiteren Jahren, in denen ich fleißig Informationen sammelte, wusste ich endlich bescheid. Ich wusste, dass ich Synästhesie besaß, und entdeckte noch einige andere Parallelen dazu (siehe z.B. das mit der traurigen 9). Nach all der Zeit hatte meine andere Wahrnehmung endlich einen Namen. Wenn man versucht, meine Synästhesie in die üblichen Kategorien einzusortieren, habe ich wohl eine Mischung aus "Gefühlssynästhesie", bei der die Wahrnehmungen zusätzlich mit einer Empfindung verknüpft sind; und "Personen-Aura-Synästhesie". Nur sehe ich keine Hülle um eine Person herum. Ich sehe die inneren Farben.

Also, nochmal langsam: ich sehe die Gefühle der Menschen in Farben. Das hat nichts mit Magie oder Zauberei zu tun. Wie das funktioniert? Das ist sehr schwierig zu erklären.
Sobald sich ein Mensch in meiner Nähe aufhält, nehme ich automatisch - neben dem, was äußerlich ohnehin zu sehen ist - Farben an ihm wahr. Das sind immer mehrere Farben, denn man empfindet ja nie nur ein einziges Gefühl. Diese Farben sind aber weder um den Menschen herum noch "an ihm dran". Mein Kopf erstellt vor meinem inneren Auge eine Kopie der Person, die vor mir steht. Diese Kopie hat denselben Umriss wie das, was ich tatsächlich sehe, ist jedoch ausgefüllt von den Farben, die die Person empfindet. Ich versuche einmal, das bildlich darzustellen:

Auf diese Art nehme ich grundlegend erst einmal jeden Menschen wahr. Aber es wäre ja keine Synästhesie, wenn das schon alles wäre.

Dabei sind die Position und die Form der verschiedenen "Flecken" nicht von Bedeutung - die Größe allerdings schon. Je größer eine Farbe, desto stärker ist das zugehörige Gefühl. Und jede Farbe gehört zu einem Gefühl - Besorgnis beispielsweise ist lindgrün und Freude violett, Arroganz grell-gelb und Hass tief dunkelbraun. Und dadurch, dass ich diese Gefühle der anderen Menschen nicht nur in Farben sehe, sondern auch mitempfinde, habe ich irgendwann gelernt, diese Zuordnung zu treffen. Am Anfang war gelb einfach nur gelb und es fühlte sich stechend an. Mit den Jahren und durch genaue Beobachtung konnte ich dieses wahrgenommene Gefühl irgendwann genau definieren. Es ist ein Lernprozess - ein verdammt bunter, emotionaler Lernprozess.

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