Sonntag, 20. November 2016
Die Farbe der tief verwurzelten Lebensfreude
In meinem Leben habe ich schon viele Menschen und mit ihnen viele Gefühlsfarben kennengelernt. Da gibt es Farben, die häufig sind - Freude und Langeweile, Wut und Enttäuschung, Anspannung und Aufregung. Farben, die mir beinahe alltäglich begegnen. Ich habe mich an eine bestimmte Farbmischung gewöhnt, von der ich meistens umgeben bin, wenn nichts Außergewöhnliches geschieht. Und durch die langjährige Erfahrung erwarte ich in bestimmten Situationen auch bestimmte Farben. An dem Tag, an dem meine zweite Ausbildung, die zur Erzieherin, begann, ging es mir nicht anders. Da es für alle seltsam und ungewohnt ist, mit wildfremden Menschen in einem Raum zu sitzen und zu wissen, dass man sie drei Jahre lang den größten Teil des Tages um sich haben wird, erwartete ich auch hier die entsprechende Farbmischung - grau-mittelblau-lindgrün mit ein paar dunkelblauen Tupfen, was zusammengefasst für eine leicht angespannte, aufgeregte, nervös-ängstliche und gleichzeitig betont gelassene Stimmung steht. Ich kannte das Schulgebäude bereits, denn dort hatte ich die Vorausbildung zur Sozialassistentin gemacht, und ich wusste auch, dass einige aus meiner alten Klasse in meine neue Klasse kommen würden. Trotzdem sah ich auf dem Gang nur fremde Gesichter. Auch ich war aufgeregt, und musste mich wegen den ganzen Farben erst sortieren, auch wenn diese wie erwartet ausfielen. Um mich nicht zusätzlich zu verwirren, sah ich an den Leuten vorbei und eher auf den Boden. Urplötzlich, ich wollte gerade durch die Tür des Klassenzimmers gehen, tauchte eine komplett andere Farbe vor mir auf. Sie war so dermaßen anders als der ganze andere Farbenbrei, dass ich erschrocken den Kopf hob. An mir ging ein Mädchen vorbei, dass ich vom Alter her nicht einschätzen konnte, sie aber so in meine Altersklasse einordnete (ich war 20); und deren Gesicht einer alten Klassenkameradin so stark ähnelte, dass ich sie fast mit diesem Namen angesprochen hätte. Gerade noch rechtzeitig fiel mir auf, dass sie es nicht war, und sie war auch schon um die Ecke gebogen. Damit ihr euch vorstellen könnt, wie sehr sich diese eine Farbe von den anderen abgehoben hat, stelle ich euch das hier mal dar:

Nochmal zur Erwähnung: ein Mensch hat nie nur ein Gefühl und deshalb nie nur eine Farbe. Sie hatte allerdings in diesem Moment die gleichen Farben wie alle anderen und zusätzlich eine ganz andere. Der Unterschied war so groß, dass mir in dem Moment hauptsächlich nur diese eine Farbe auffiel.
Ich war jetzt jedenfalls doch verwirrt und ging ins Zimmer, wo ein Stuhlkreis gestellt war. Auf der hinteren Seite saßen die ganzen "Sozis", wie wir Sozialassistenten zusammenfassend bezeichnet werden. Ich setzte mich erst einmal dazu, immerhin habe ich gerne den Überblick über den Raum (auch, um von keinen Farben überrascht zu werden, die von hinten kommen). Nach und nach kamen weitere, mir fremde Personen hinein und suchten sich einen Platz. Irgendwann war die Farbe wieder da, in Form des Mädchens, das aussah wie meine alte Klassenkameradin, bloß mit einer anderen Haarfarbe. Sie setzte sich auf einen Stuhl auf der rechten Seite, von mir ausgesehen. Jetzt sah ich, was das für eine so auffällige Farbe war: Smaragdgrün. Wie immer, wenn ich eine eher unübliche Farbe analysieren will, kramte ich in meinem Gedächtnis nach der dazugehörigen "Übersetzung" - also dem Gefühl, der Bedeutung, die diese Farbe hatte. Ich kam nicht drauf. Ich wusste, dass es etwas sehr Angenehmes war, aber ich wusste nicht, was.
Wenn ich die Farben, die ich sehe, mal nicht einordnen kann, lässt mir das keine Ruhe. Ich konnte nicht anders, als immer wieder zu ihr rüberzuschauen, und versuchte, mir die Farbbedeutung durch irgendwas zu erschließen. Durch die Bewegungen, die Art zu reden oder irgendwas anderes. Doch alles, was ich merkte, war, dass ich diese Farbe noch nie vorher irgendwo gesehen hatte. Und ich merkte die Auswirkungen dieser Farbe. Sie hatte etwas Beruhigendes, eine Art Glücksempfindung, und sie steckte an. Ich war gelöster, sobald ich mich auf dieses Smaragdgrün konzentrierte. Und sie steckte an, riss mit, auf eine nicht benennbare Weise. Ich war nicht so farbempfindlich wie sonst, die Aufregung und Nervosität im Raum erreichte mich kaum noch. Smaragdgrün war wie ein Schild.
Es dauerte damals noch eine ganze Weile, bis ich benennen konnte, was dieses Smaragdgrün war. Das konnte ich erst, als ich die dazugehörige Person - die inzwischen eine sehr gute Freundin von mir ist - näher kennenlernte. Irgendwann, ganz plötzlich mittendrin, kam die Erleuchtung: innere, tief verwurzelte Lebensfreude. Diese Bezeichnung kam mir spontan in den Sinn (so wie der Farbenname der Schmerzen^^), und seitdem nutze ich sie so. Diese Wirkung hält bis heute an: ich kann neben meiner Freundin sitzen, ganz vorne im Raum, und die anderen Farben stören mich viel weniger. Ansteckend ist diese Lebensfreude auch. Sie reißt mich mit, manchmal so ungestüm, dass ich selber nicht mitkomme, und dann erfasst mich eine Welle der Euphorie, über die ich hinterher manchmal nur den Kopf schütteln kann. Und ich habe diese Gefühlsfarbe bisher nicht bei jemand anderem wiedergefunden. Warum? Ganz einfach: wer besitzt denn heutzutage noch tiefe, innere Lebensfreude?

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